Kreis-Ausländerbeirat hat Wolfgang Grenz (Amnesty International) und Mürvet Öztürk zu Gast
Gießen (son). Der Begriff "sicherer Herkunftsstaat" ist von zentraler Bedeutung in der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Mit dem Asylverfahrenbeschleunigungsgesetz, das am 23. Oktober in Kraft getreten ist, wurden unter anderem Albanien, Kosovo und Montengegro als sichere Staaten eingestuft. Was das für Flüchtlinge aus diesen Ländern bedeutet und ob diese Staaten wirklich "sicher" sind - darüber sprachen am Dienstag in der Sitzung des Kreisausländerbeirates Wolfgang Grenz, ehemaliger Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, und Mürvet Öztürk, fraktionslose Abgeordnete im Hessischen Landtag.
Fairness sieht anders aus
"Der Ursprung des Begriffs liegt im Jahr 1993", erinnerte Grenz. Damals bediente sich die Bundesrepublik einer Grundgesetzänderung, um Flüchtlinge leichter abschieben zu können. Der Staat vermutet bei Menschen aus diesen Ländern keine politische Verfolgung. Grenz: "In der Regel werden die Asylanträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt." Die Erklärung, jetzt die Westbalkan-Staaten als sicher zu deklarieren sei hauptsächlich ein politisches Signal. "Diese Leute will Deutschland nicht aufnehmen".
Die Realität dort sehe allerdings anders aus. Faktisch würden in nahezu allen Balkanländern bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch disrkiminiert, besonders Angehörige der Roma und Ashkari. Auch Homosexuelle und Jorunalisten würden verfolgt, und Frauen und Mädchen können bei geschlechtsspezifischer Gewalt nicht unbedingt auf die Hilfe des Staates vertrauen. "Klagen nun aber Flüchtlinge aus diesen Ländern gegen die Ablehnung ihres Antrags, hat dies keine aufschiebende Wirkung", sagte Grenz. Die Flüchtlinge müssten zudem einen Eilantrag auf aufschiebende Wirkung stellen. "Das bedeutet eine erhebliche Einschrlänkung des Rechtsschutzes." Ein faires Verfahren sehe anders aus. Auch weil die Behörden unter Hochdruck arbeiteten, folgten viele Mitarbeiter der Vermutungsregel "sicherer Herkunftsstaat", betrachteten nicht das Einzelschicksal.
Auch Mürvet Öztürk, derzeit fraktionslose Grüne im Landtag, kritisierte das Vorgehen der Bundesregierung. "Schon die Asylrechtsverschärfungen von 1993 haben ja für viele Menschen viel Leid bedeutet", merkte sie an. Auch für die, die bleiben durften, aber seither in einem "Kettenduldungsstatus" leben müssen". Diese Menschen brauchten auf jeden Fall ein Bleiberecht, damit das Damoklesschwert "befristeter Aufenthalt" von ihnen genommen werde.
Öztürk wies ebenfalls darauf hin, dass die europäischen Länder seit Jahren wissen konnten, dass in großem Ausmaße Flüchtlinge nach Europa drängen werden. "Die Situation von Kriegen, Verfolgungen, Klimawandel und politischer Instabilität war doch zu erkennen." Aber eine wirkliche Debatte um Lösungen habe Europa versäumt und verdrängt. "Wir haben uns nicht gekümmert und wollen nun mit einer repressiven Asylpolitik antworten. Das ist nicht richtig."
Teilnehmer der Versammlung schilderten Schicksale von Flüchtlingen, die trotz chronischer Erkrankungen abgeschoben wurden oder werden sollen. Grenz dazu: "Man darf niemanden abschieben, der so krank ist, dass man damit rechnen muss, dass er aufgrund der Versorgung im Heimatland daran in absehbarer Zeit sterben wird".
Gießener Allgemeine, 20.11.2015