Was bedeutet der Familiennachzug bei Flüchtlingen im Landkreis Gießen?
KREIS GIESSEN - Der Streit um den Familiennachzug subsidiär geschützter Flüchtlinge war einer der großen Knackpunkte bei den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD. Bis heute fehlen belastbare Zahlen zum erwarteten Familiennachzug. Diskutiert werden Prognosen, die je nach Interessenlage zwischen mehreren zehntausend und sieben Millionen Menschen schwanken können.
So hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im Juni 2016 eine Prognose veröffentlicht, nach der mit einem Nachzug von 0,9 bis 1,2 Familienangehörigen pro schutzberechtigtem syrischen Geflüchteten zu rechnen ist. Laut dieser Prognose kann man von bis zu einer halben Million syrischer Familienangehöriger ausgehen, die in den kommenden Jahren nach Deutschland nachziehen könnten. Je weiter man sich freilich im politischen Spektrum nach rechts begibt, desto höher fallen die Prognosen zum Familiennachzug aus. Da ist dann auch schon mal von "vier bis sieben Nachzüglern pro Familie" die Rede.
Nun haben bereits die ersten anerkannten Flüchtlinge - vor allem aus Syrien - ihre Kernfamilie (das sind der Ehepartner und unverheiratete minderjährige Kinder) nachholen dürfen. Zumindest vor Ort in Stadt und Landkreis könnten diese Zahlen bekannt sein und eventuell eine realistische Einschätzung des zu erwartenden Familiennachzugs ermöglichen.
Kein Gesamtbild in Gießen
Anfragen bei der Stadt und beim Landkreis bringen freilich wenig Licht ins Dunkel. "Die Zahlen, die wir - allerdings auch nur mit nicht vertretbarem Aufwand erheben könnten, denn dafür gibt es keine EDV-Statistik -, geben kein Gesamtbild und tragen deshalb auch nicht zur Aufklärung bei", antwortet die Pressesprecherin der Stadt Gießen, Claudia Boje, auf Anfrage des Anzeigers.
Ihr Kollege beim Landkreis, Kays Al-Khanak, teilt dagegen mit, dass im vergangenen Jahr 95 Familiennachzügler - 62 Kinder und 33 Erwachsene - für Menschen mit Flüchtlingsstatus in den Landkreis (ohne die Stadt Gießen) gekommen sind. Durchschnittlich seien drei Personen (ein Erwachsener und zwei Kinder) je Flüchtling nachgereist. Wie hoch die Zahl der noch nicht entschiedenen Anträge ist, konnte Al-Khanak nicht beziffern.
Dies liegt unter anderem an der Verfahrensweise: In der Regel würden die Ausländerbehörden durch die Auslandsvertretung nur über die entschiedenen, aber nicht über gestellte Anträge informiert. Wie viele Antragsteller auf diese 95 Familiennachzügler kommen, konnte der Kreispressesprecher nicht sagen. Das gebe das Zahlenmaterial nicht her.
Die vom Kreis angegebene Quote von etwa eins zu drei klingt im Vergleich zu anderen Kommunen und bei aller Vorsicht aufgrund des spärlichen Datenmaterials plausibel. So haben beispielsweise laut "Regensburger Wochenblatt" im Landkreis Regensburg im vergangenen Jahr 34 Antragsteller 130 Familienmitglieder nach Deutschland geholt.
Helge Krista von der Ausländerbehörde des Landkreises Gießen teilte in der Sitzung des Kreisausländerbeirats (KAB) mit, dass bis jetzt im Landkreis Gießen 171 anerkannte Flüchtlinge und 57 subsidiär Geschützte eine fristwahrende Anzeige für einen erleichterten Familiennachzug gestellt hätten. Die Nachzugssperre für Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus sollte ja ursprünglich zum 16. März aufgehoben werden, wurde dann aber bis Ende Juli ausgesetzt.
Beim erleichterten Familiennachzug müssen die Antragssteller im Gegensatz zum Normalverfahren keinen gesicherten Lebensunterhalt und auch keinen ausreichenden Wohnraum nachweisen. Krista betonte, dass Antragsteller durch eine fristwahrende Anzeige diese Drei-Monats-Frist sichern könnten. Die beginne dann nämlich erst nach dem Ende der Aussetzung des Familiennachzugs. "Niemand verpasst etwas."
André Trippner von der Migrationsberatung des Diakonischen Werks berichtete im Kreisausländerbeirat von "hochdramatischen" Szenen in ihrem Büro. Viele Menschen hätten auf den 16. März gewartet und seien jetzt am Boden zerstört. "Viele sind an dem Punkt, an dem sie überlegen, wieder zurückzugehen." Bei der Diakonie würden derzeit jeden Tag Flüchtlinge wegen des Themas "Familiennachzug" vorsprechen. "Ich mache im Moment fast nichts anderes mehr."
Wie groß das Problem ist, zeige auch die Lage der deutschen Botschaften in den Herkunftsländern. Wer dort einen Termin wolle, müsste derzeit bis zu einem halben Jahr warten.
Landkreis Giessen 23.02.2018, Gießener Anzeiger