Aus: Gießener Allgemeine vom 10. März 2008, Seite 14
>> Weg der Alphabetisierung führt in ein neues Leben <<
Ezidische Gemeinde hatte zum Weltfrauentag ins Lollarer Gemeindezentrum eingeladen - Vortrag von Francoise Hönle
Lollar (mba). Wie in vielen sozialien und religiösen Gesellschaften, ist auch der Alltag von ezidischen Frauen häufig durch Unterdrückung gekennzeichnet, erklärte Hizniye Usman, Frauenreferentin der Ezidischen Gemeinde Hessen. Umso wichtiger sei es, die Missstände zu erkennen und zu beseitigen. Die ezidische Gemeinde hatte am Weltfrauentag zu einem geselligen Nachmittag ins Gemeindezentrum im Lollarer Industriegebiet eingeladen, um gemeinsam die Stellung der Frau zu reflektieren. Dazu waren auch Vertreterinnen anderer politischer Organisationen gekommen. Von den Freien Wählern aus Lollar nahmen Eva Rühl und Monika Zecher an der Veranstaltung teil, Marianne Wölk vom Arbeitskreis sozialdemokratischer Frauen Marburg war ebenso dabei wie die Vorsitzende des Kreisausländerbeirates Gießen, Francoise Hönle.
Hönle referierte über die Schwierigkeiten der Alphabetisierung im Erwachsenenalter, von der viele ezidische Frauen betroffen sind. Menschen, die schon zu Kindheitstagen lesen und schreiben gerlernt haben, könnten sich die Situation von Analphabeten kaum vorstellen, diese blieben oft unverstanden.
Dennoch bräuchten sich analphabetische Frauen und Männer nicht schämen, weil sie ihre Situation nicht selbst verschuldet hätten und keinesfalls dumm seien. Es handle sich hierbei schlicht um eine andere Art von Wissen, nämlich ein tiefes und wirkliches Wissen. Trotzdem sei es gerade in Deutschland wichtig, des Lesens mächtig zu sein, um seinen Alltag selbstständig organisieren zu können. Deswegen ermutigte Hönle alle Frauen, den zugegebenermaßen beschwerlichen Weg der Alphabetisierung zu gehen und versprach den "Beginn eines neuen Lebens".
Hizniye Usman sprach zu Beginn über die Geschichte und die Bedeutung des Weltfrauentages und ging dann näher auf die Situation der ezidischen Frau ein. Häufig seien Frauen allein für den Haushalt und für die Erziehung der Kinder zuständig und nehmen wegen der Weisung, sich zu fügen, keine Bildungsangebote wahr. Kinderlosigkeit würde mit der Schuld der Frau begründet, während Söhne oft ein höheres Ansehen als Mädchen genießen würden.
Diese Unterdrückung sei jedoch religiös nicht gerechtfertigt und sei somit ein gesellschaftliches Problem, das es zu beseitigen gelte. Die Deutschen forderten von den ezidischen Familien zurecht die Assimilierung an westliche Lebensumstände, so Usman: "Auch wir sehen die Notwendigkeit der Integration." Man müsse jedoch behutsam vorgehen, weil der Wandel für die meisten ezidischen Menschen eine sehr große Umstellung bedeute.
Musikalische Beiträge rundeten das Programm ab. Die Trommelgruppe "Die Erde" um Nadar Madjidian versinnbildlichte mit ihren zahlreichen Nationalitäten das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Völker. Ihre rhythmischen Klänge gefielen den Frauen und Kindern, genau wie der kurdische Gesang von Sibel Sancar. Sie sang zum Einen über einen kriegerischen Volkshelden und griff zum anderen die Weltfrauentag-Thematik mit einem Lied über die Fürsorglichkeit einer Mutter. Dafür erntete sie kräftigen Applaus. Druch das bunte Programm aus Reden, Musik und Tanz führte Ferner Chaker auf deutsch, Sibel Sancar begleitete die Gäste in kurdischer Sprache. Der Vorsitzende der ezidischen Gemeinde Hessen, Irfan Ortac, zeigte sich mit dem Verlauf der Veranstaltung zufrieden, weil die Integration der verschiedensten sozialen Gruppen funktioniere. Die Vorurteile, die in der Gesellschaft bestünden, können nur durch persönlichen Kontakt abgebaut werden. Und eine Feier wie diese trage dazu bei.