FRONTEX: „Symbol für die Festung Europa“
Über den Umgang mit Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU diskutierten Bundestags- und Landtagsabgeordnete
Gießen (kh). Über die Grenzöffnungen in Europa dürften sich die meisten gefreut haben, über die Flüchtlingsproblematik an den Außengrenzen sowie über „FRONTEX“ weiß jedoch kaum einer Bescheid. Dies wollte der Kreisausländerbeirat am Freitagabend mit einer Diskussion über die Hintergründe der weitgehend unbekannten Grenzschutzagentur FRONTEX ändern. Impulsvorträge hielten die Bundestagsabgeordneten Tom Koenigs (Grüne), Vorsitzender im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestags, und Rüdiger Veit (Sprecher der Querschnittsarbeitsgruppe Migration und Integration der SPD-Fraktion). Ergänzt wurde die Runde durch Hermann Wilhelmy (Ev. Flüchtlingsseelsorge Gießen), der den Abend moderierte, und den Gießener FDP-MdL Wolfgang Greilich (Mitglied im Landes- und Bundesfachausschuss Innen- und Rechtspolitik). Mit einem Grußwort und der Forderung nach Perspektiven für Flüchtlinge eröffnete Landrätin Anita Schneider (SPD) die Runde.
Aber wer oder was ist FONTEX? 2004 hat die Europäsche Union (EU) die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (kurz FONTEX) ins Leben gerufen, um mit einer eigenen Grenzschutzagentur die Außengrenzen zu stärken und die Zahl illegaler Einwanderer zu reduzieren. Laut kritisieren Menschenrechtsorganisationen seither Zusammenhänge zwischen FONTEX und militärischen Flüchtlings-Abwehrmaßnahmen. Der Gießener Kreisausländerbeirat weist ausdrücklich auf die Abschiebung von Flüchtlingen durch die Agentur hin sowie auf unzählige Menschen, die jährlich bei missglückten Fluchtversuchen ihr Leben lassen. Außerdem unterliege die Einrichtung keiner Informationspflicht an die Mitgliedsstaaten, die Arbeit sei also kaum transparent.
In seinem Vortrag bezeichnete Koenigs FRONTEX als „Schlagwort für die Asylpolitik“ und habe zwar offiziell keine operativen Befugnisse (wie etwa das Abfangen und die Kontrolle von Schiffen oder Hilfsmaßnahmen), doch sei eine wachsende Militarisierung zu verzeichnen. Die FRONTEX-Richtlinien könnten keine Missstände beheben, selten würden Flüchtlinge nach der Menschenrechts-Charta behandelt. Koenigs forderte er eine Beobachtung der Einrichtung durch unabhängige Stellen, keine Abschreckung von Flüchtlingen, gleiche Schutzstandards für alle, eine europäische Asylpolitik gemäß europäischer Freiheitsrechte sowie Wege zur legalen Migration: „Jedes Einzelschicksal ist ein Menschenrechts-Skandal“.
Veit stimmte seinem Vorredner in der Notwenigkeit nach Fortschritten in der Flüchtlingspolitik zu, jedoch betonte er die rein koordinierenden Aufgaben von FRONTEX, die als eigenständige Agentur und europäische Institution ausschließlich nationale Kräfte und keine operativen Mittel zur Verfügung habe. Veit lieferte Erfahrungsberichte beispielsweise aus Lampedusa oder dem unter Flüchtlingsströmen leidenden Griechenland und beschrieb die Situation in Libyen als „Zustände, die man aus mitteleuropäischer Sicht nicht nachvollziehen kann“. Die FRONTEX-Richtlinien stufte er als Erfolg ein, das Hauptproblem der „Festung Europa“ beruhte auf den zwischenstaatlichen Verträgen. In Zukunft müsse darauf geachtet werden, die Aufgaben in der Flüchtlingspolitik nicht nur finanziell gerecht zu verteilen: „Wir brauchen eine reale Lastenteilung“.
Greilich ergänzte die Runde durch eine innenpolitische Perspektive. Auch er verwies auf die rein koordinierenden Befugnisse, da die gesamte Exekutive bei den Mitgliedsstaaten der EU liege. Dabei entstünden Konflikte zwischen den Interessen der Nationalstaaten und den Flüchtlingsproblemen: „Es ist nicht die Aufgabe von FRONTEX die Festung Europa zu verteidigen. Wir müssen etwas an der europäischen Einwanderungspolitik tun“.
Auch die anschließenden Diskussionen orientierte sich an Fragen nach den Verantwortlichkeiten und Kompetenzen von FRONTEX sowie Verbesserungsmöglichkeiten. Koenigs forderte eine gemeinsame Übernahme der Verantwortung, bei FONTEX werde das „Wegsehen organisiert, das entspricht nicht dem Geist Europas“. Veit betonte vehement, dass man bereit sein müsse, Asyl zu gewähren. Ein erster Erfolg sei zu verbuchen: Gießen habe beschlossen, zehn Flüchtlinge aufzunehmen. Zumindest im abschließenden Statement Greilichs war sich die Diskussionsrunde einig: „Auch Deutschland muss seinen Beitrag leisten“.
Giessener Allgemeine, 28.09.2010