Lehrer an Arbeit von „Schule für alle“ interessiert Dr. Ulrich Hain referierte beim Kreisausländerbeirat über Projekt im Landkreis – Ausführliche Diskussion Linden (gbp). „Laut PISA-Studie und Bildungsbericht 2009 schafft es unser Schulsystem bis heute nicht, Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aufgrund sozialer Schichtzugehörigkeit auszugleichen, jedenfalls signifikant schlechter als in manchen Nachbarländern“, sagte der Giessener Dr. Ulrich Hain, der zum Thema „Von der Selektion zur Inklusion“ am Beispiel des Projekts „Schule für alle im Landkreis Gießen (Sfa)“ referierte. Eingeladen hatte der Kreisausländerbeirat. Das Referat blieb einziger Tagesordnungspunkt, da der Ausschuss nicht beschlussfähig war. Doch konnte Vorsitzender Tim van Slobbe zahlreiche Gäste begrüßen, darunter den Dezernenten für Migration, Dirk Haas, mehrere Schulleiter von Grund- und Förderschulen des Kreises und Studierende, die sich in dem Sfa-Projekt als „Integrationslotsen“ engagieren. Rund zwei Stunden lang wurde das Thema ausführlich und zuweilen kontrovers und emotional diskutiert. „Schule für alle“ ist eine ehrenamtliche Initiative in Zusammenarbeit mit der Justus-Liebig-Universität, die auf die Verbesserung der Situation von schulisch benachteiligten Kindern aus Familien mit Migrationsschicksal oder anderen Risikolagen zielt. Sfa vermittelt „Patenschaften“ zwischen Kindern in Grundschule sowie Sekundarstufe I und Studierenden der Erziehungswissenschaft. Das Projekt ist Preisträger des Wettbewerbs „Generationendialog in der Praxis – Bürger initiieren Nachhaltigkeit“ des Rates für nachhaltige Entwicklung und der Bundesregierung. Lotsen sammeln Erfahrungen Im Mittelpunkt des Beitrags von Hain, der über 35 Jahre in der Lehrerausbildung tätig war, stand harsche Kritik am Schulsystem, das im Widerspruch zur Inklusion stehe. Das System sei in vieler Hinsciht ineffektiv und wirke sich sozial selektiv aus. Im Mittelpunkt der Sfa-Arbeit stehe die Eins-zu-Eins-Betreuung von Kindern aus benachteiligten Familien durch als „Lotsen“ tätige Studierende und die persönliche Begleitung in den Familien und – wo möglich – in der Schule. Dies gleiche „exkludierende“ Defizite des Schulsystems aus. Dort sei die Unterrichtsebene oft vom „Traum von der homogenen Lerngruppe“ gekennzeichnet, die im Gleichtakt unterrichtet werden könne. Unter dem Stichwort „Herkunftseffekte“ kritisierte Hain mangelnde Erfahrungen mit der familiären Sozialisation von Kindern aus Risikolagen – Erfahrungen, die die Lotsen durch den Kontakt zu den Familien erlangen könnten. „Unsichtbare Hausarbeit“, die ergänzende Arbeit und Nachhilfe zu Hause werde von Sfa durch „Sichtbare Hausarbeit“ ersetzt. Die Lehrer waren an der konkreten Arbeit von Sfa interessiert und erfuhren, dass die Kinder in der Regel über mindestens ein Jahr vier Stunden wöchentlich in der Familie und – wo dies möglich ist – in der Schule durch Lotsen aus pädagogischer Schulung betreut werden. Es finden wöchentliche Fallreflexionen statt, zum Abschluss wird ein Bericht erstellt. Von den derzeit 40 betreuten Kindern haben 39 Migrationshintergrund. „Ziel des Projekts ist auch, dass Studierende die Schule aus der Perspektive der Kinder sehen lernen“, erklärte van Slobbe. Konkrete Ergebnisse und Lösungsvorschläge sollten erarbeitet werden. Die Förderschulen in der Inklusionsdiskussion durch Begriffe wie „in Förderschulen abschieben“, „Schande“ oder „Beschämung“ diskreditiert sahen die Schulleiter Rainer Berk (Anna-Freud-Schule Lich) und Rolf Bayer (Georg-Kerschensteiner-Schule Biebertal). Sie verwiesen auf die hohe Kompetenz und Diagnostikerfahrung der Lehrkräfte an Förderschulen und die im Vergleich zu Regelschulen hohe Quote von erfolgreichen Hauptschulabschlüssen an ihren Einrichtungen. Gießener Allgemeine Zeitung, 14.05.2011