Mehr Staat bei Hilfe für benachteiligte Schüler gefordert
Ulrich Hain von der Uni Gießen referierte beim Kreisausländerbeirat über Förderung in Schulen – Probleme mit Tagungsort in der Lindener Stadthalle
KREIS GIESSEN (ka). Vom Veranstaltungsort im Foyer der Lindener Stadthalle zeigten sich die Teilnehmer der mittlerweile vierten Sitzung des Kreisausländerbeirates Gießen doch etwas überrascht. Lieber wäre ihnen das Foyer der Volkshalle in Leihgestern gewesen, doch dies ließ sich so unmittelbar vor Sitzungsbeginn dann nicht mehr ändern. Wie Vorsitzender Tim Van Slobbe in seiner Begrüßung mitteilte, sei bei der Buchung der Lokalität wohl davon ausgegangen worden, dass der Ausländerbeirat der Stadt Linden mit zehn Teilnehmern und nicht der Kreisausländerbeirat mit rund 30 Teilnehmern tagt.
Im Mittelpunkt der Sitzung stand der Vortrag von Dr. Ulrich Hain (Gießen) zum Thema „Von der Selektion zur Inklusion - am Beispiel des Projekts Schule für alle im Landkreis Gießen“ sowie die Beförderung von Schülern zu inklusionsbereiten Schulen. Vor diesem Hintergrund nahmen gut ein Dutzend Schulleiter und Schulleiterstellvertreter aus Schulen des Landkreis Gießen an der Sitzung teil. In deutschen „Förderschulen“ (früher „Sonderschulen“) werden nicht nur Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen verschiedenen Ausmaßes unterrichtet, sondern auch eine im internationalen Vergleich sehr hohe Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund werden auf sonderpädagogischen Förderbedarf überprüft und aus der Regelschule ausgegrenzt. Sie landen überdurchschnittlich oft in Schulen für „Lernhilfe“, „Sprachheilpädagogik“ oder „Erziehungshilfe“.
Das Projekt „Schule für alle“ im Landkreis Gießen ist eine preisgekrönte Initiative in Zusammenarbeit mit der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen, die Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen eine Einweisung in die Förderschule droht, mit Hilfe von Studierenden der Erziehungswissenschaften individuell fördert. „Inklusion und die neuen Tatsachen, die da kommen sollen, widersprechen unserem Schulsystem, weil Schule sich damit schwertut. Es entstehen immer Lücken, die die Schule nicht ausfüllen kann“, so der Referent, der daran erinnerte, dass „unsere Schule seit altersher auf die Unsichtbarkeit der Mütter ausgelegt ist“. Überhaupt stehe die deutsche Schule seit 1945 laufend in der Kritik. Aktuelle verfügten die deutschen Schulen über die homogensten Klassen in Europa, und trotzdem gebe es Klagen.
Durch die Pisa-Studien gerate die Schule unter Druck, woraus sich ein Leistungsdruck entwickle, der selektive Tendenzen für Schüler mit Migrationshintergrund mit sich bringe. Überhaupt schaffe es das deutsche Schulsystem bis heute nicht, Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen aufgrund sozialer Schichtzugehörigkeit, Armut und Migrationshintergrund auszugleichen.
Aus der Psychologie sei bekannt, dass die deutsche Schule die Noten liebe und alles sich auf die Note ausrichte. Es sei eine Aufgabe für „Schule für alle“ dort einzugreifen, wo Schüler „durch den Rost zu fallen drohen“. Erreicht werden müsse hier, „dass Kinder in der Schule den Anschluss finden und an der Inklusion teilnehmen können, wobei nicht die Note bei der häuslichen Arbeit, sondern der Inhalt im Vordergrund stehen müssen“. Hain sprach sich bei „Schule für Schule“ für eine „Eins-zu-Eins-Unterstützung“ aus, bei der das Kind im Mittelpunkt steht und Lotsen Koordinations- und Kooperationsaufgaben in Form von „Hilfe von außen“ übernehmen.
Ein Lehrer unterstrich, dass die individuelle Beziehung zu Kindern notwendig ist. „Die Frage ist doch wie bekommen wir es hin, wenn das Elternhaus nicht in der Lage, ist dies zu übernehmen.“ Es sei nicht möglich, dies auf Ehrenamtliche „abzuwälzen. Dies kann nicht die Lösung der Inklusion sein. Eine andere Teilnehmerin sprach in diesem Zusammenhang von einem „Skandal, dass der Staat hier nichts unternimmt“.
Giessener Anzeiger, 14.05.2011