Wenn die Wahlheimat krank macht
Vortragsdiskussion widmete sich Thema "Älterwerden in der Fremde"
Gießen (vo). Das Alter an sich ist kein Zuckerschlecken, und fern der alten Heimat trifft es Frauen besonders hart. Wie ist ihnen zu helfen? Mit diesem Thema beschäftigte sich der Arbeitskreis »Migrantinnen« des Kreisausländerbeirates anlässlich des Internationalen Frauentages.
Zu einen Vortrag mit Gesprächsrunde zum Thema »(Alb-)Traum Lebensabend? Älterwerden in der Fremde« am Dienstag im Netanya-Saal des Alten Schlosses war als Expertin für Psychosomatik und Migrantenmedizin Dr. Secil Akinci eingeladen.
Selbst vor zehn Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, leitet sie seit fünf Jahren die psychosomatische Abteilung der Median-Klinik am Südpark in Bad Nauheim. Dort sind 20 von 100 Betten für türkische Patienten reserviert, die meisten davon Frauen.
Bei ihnen seien psychosomatische Symptome, Depressivität und Angst verbreitet, und zwar viel stärker als in der Türkei. Oft werde gesagt: »Deutschland macht mich krank.« Gründe für die Beschwerden seien vielschichtige Belastungen wie Verständigungsschwierigkeiten, geringe Bildung, Arbeitslosigkeit, Verluste, Trennungen, finanzielle und familiäre Probleme.
Viele wünschten sich türkisch sprechende Ärzte und Therapeuten. An die muttersprachliche Behandlung würden aber oft zu große Erwartungen gerichtet. « 50 Jahre Migration können wir nicht in fünf Wochen wettmachen«, sagte die Ärztin. In der Reha-Klinik sei es vor allem die Distanz zum Alltag, die andere Blickwinkel und damit einen Neustart ermögliche. Manchmal gehe es auch nur um eine Auszeit. Besonders schlechte Prognosen hätten Frauen, die zu einem gewalttätigen Mann zurückkehrten.
Migration bedeutet Stress
An der Diskussion beteiligten sich Expertinnen zum Beispiel aus der Altenhilfe, Frauenorganisationen und Beratungsstellen, dazu eine Rechtsanwältin und eine Vertreterin der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinde. Einig war man sich in der Aussage: »Migration bedeutet Stress.« Entwurzelung, Heimweh, Isolation, auch aufgrund der Sprachbarrieren, könnten körperliche und seelische Schmerzen verursachen, aber auch eine höhere Rate an Demenz. Viele hätten mit der Vorstellung gelebt, erst in Deutschland Geld zu verdienen und dann in die Heimat zurückzukehren. Dort aber könnten sie nach Jahrzehnten nicht mehr auf die früheren Netzwerke zurückgreifen, und daraus ergebe sich eine doppelte Einsamkeit. Andere wollten einerseits zurück, andererseits aber bei den Enkelkindern in Deutschland bleiben. Diese Aspekte beleuchtete Isabel de Jésus-Domicke in einem Papier zum Thema.
Die Pflege im Alter werde vor allem von der Familie erwartet. Das sei oft unrealistisch. Einerseits gebe es da die Oma mit vierzehn Kindern, die dennoch allein bleibe. Andererseits werde vielen Töchtern ein schlechtes Gewissen gemacht.
Große Probleme entstünden durch fehlende Deutschkenntnisse. Gefühle könne man besser in seiner Muttersprache ausdrücken. Oft sei es problematisch, wenn zum Beispiel bei der Scheidungsanwältin Kinder für die Eltern dolmetschen müssten oder der Vater für die pubertäre Tochter beim Arzt.
Rat: Selbsthilfegruppen bilden
Gerade wenn Hilfe benötigt werde, fehle es oft an Informationen, die Deutsche zum Beispiel aus der Zeitung beziehen. Am ehesten seien türkische Frauen über die Moschee-Gemeinden zu erreichen. Angeregt wurde eine Zusammenarbeit mit Vorträgen über Beratungsmöglichkeiten und Sozialleistungen, zum Beispiel die Pflegeversicherung oder die Übernahme von Heimkosten.
Wo immer möglich sollten Selbsthilfegruppen gebildet werden. So bittet Silvia Ernst-Tijero Interessentinnen für eine Selbsthilfegruppe zum Thema Demenz bei Migrantinnen, sich beim Ausländerbeirat des Landkreises Gießen zu melden. Gefordert wurden zudem offene Begegnungsstätten für ältere Menschen aus allen Ländern und eine migrantengerechte Gestaltung zum Beispiel von ambulanten Pflegediensten, Seniorenzentren oder Beratungsstellen. (Foto: vo)
Selbst vor zehn Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, leitet sie seit fünf Jahren die psychosomatische Abteilung der Median-Klinik am Südpark in Bad Nauheim. Dort sind 20 von 100 Betten für türkische Patienten reserviert, die meisten davon Frauen.
Bei ihnen seien psychosomatische Symptome, Depressivität und Angst verbreitet, und zwar viel stärker als in der Türkei. Oft werde gesagt: »Deutschland macht mich krank.« Gründe für die Beschwerden seien vielschichtige Belastungen wie Verständigungsschwierigkeiten, geringe Bildung, Arbeitslosigkeit, Verluste, Trennungen, finanzielle und familiäre Probleme.
Viele wünschten sich türkisch sprechende Ärzte und Therapeuten. An die muttersprachliche Behandlung würden aber oft zu große Erwartungen gerichtet. « 50 Jahre Migration können wir nicht in fünf Wochen wettmachen«, sagte die Ärztin. In der Reha-Klinik sei es vor allem die Distanz zum Alltag, die andere Blickwinkel und damit einen Neustart ermögliche. Manchmal gehe es auch nur um eine Auszeit. Besonders schlechte Prognosen hätten Frauen, die zu einem gewalttätigen Mann zurückkehrten.
Migration bedeutet Stress
An der Diskussion beteiligten sich Expertinnen zum Beispiel aus der Altenhilfe, Frauenorganisationen und Beratungsstellen, dazu eine Rechtsanwältin und eine Vertreterin der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinde. Einig war man sich in der Aussage: »Migration bedeutet Stress.« Entwurzelung, Heimweh, Isolation, auch aufgrund der Sprachbarrieren, könnten körperliche und seelische Schmerzen verursachen, aber auch eine höhere Rate an Demenz. Viele hätten mit der Vorstellung gelebt, erst in Deutschland Geld zu verdienen und dann in die Heimat zurückzukehren. Dort aber könnten sie nach Jahrzehnten nicht mehr auf die früheren Netzwerke zurückgreifen, und daraus ergebe sich eine doppelte Einsamkeit. Andere wollten einerseits zurück, andererseits aber bei den Enkelkindern in Deutschland bleiben. Diese Aspekte beleuchtete Isabel de Jésus-Domicke in einem Papier zum Thema.
Die Pflege im Alter werde vor allem von der Familie erwartet. Das sei oft unrealistisch. Einerseits gebe es da die Oma mit vierzehn Kindern, die dennoch allein bleibe. Andererseits werde vielen Töchtern ein schlechtes Gewissen gemacht.
Große Probleme entstünden durch fehlende Deutschkenntnisse. Gefühle könne man besser in seiner Muttersprache ausdrücken. Oft sei es problematisch, wenn zum Beispiel bei der Scheidungsanwältin Kinder für die Eltern dolmetschen müssten oder der Vater für die pubertäre Tochter beim Arzt.
Rat: Selbsthilfegruppen bilden
Gerade wenn Hilfe benötigt werde, fehle es oft an Informationen, die Deutsche zum Beispiel aus der Zeitung beziehen. Am ehesten seien türkische Frauen über die Moschee-Gemeinden zu erreichen. Angeregt wurde eine Zusammenarbeit mit Vorträgen über Beratungsmöglichkeiten und Sozialleistungen, zum Beispiel die Pflegeversicherung oder die Übernahme von Heimkosten.
Wo immer möglich sollten Selbsthilfegruppen gebildet werden. So bittet Silvia Ernst-Tijero Interessentinnen für eine Selbsthilfegruppe zum Thema Demenz bei Migrantinnen, sich beim Ausländerbeirat des Landkreises Gießen zu melden. Gefordert wurden zudem offene Begegnungsstätten für ältere Menschen aus allen Ländern und eine migrantengerechte Gestaltung zum Beispiel von ambulanten Pflegediensten, Seniorenzentren oder Beratungsstellen. (Foto: vo)
Gießener Allgemeine Zeitung, 14.03.2013