Wo Wohnen, wenn´s weniger Geld gibt?
Kreisausländerbeirat kritisierte am Dienstag Kreis-Mietwerterhebung: „Geht an der Lebenswirklichkeit vorbei“
Gießen (dw) Alle Menschen müssen wohnen. Aber für jene, die dabei auf Unterstützung der Sozialverwaltung angewiesen sind, wird das in Zukunft schwieriger werden, befürchtet der Kreis-Ausländerbeirat, der am Dienstag im Landratsamt am Riversplatz tagte. Seit Anfang Dezember gelten im Landkreis neue Richtlinien, auf deren Grundlage die sogenannten Kosten der Unterkunft (KdU) berechnet werden. „Das Anliegen des Kreises ist es, dass Leistungsbezieher Wohnraum finden, der angemessen und bezahlbar ist“, betonte Marita Seibert, die Leiterin des Fachbereichs Soziales und Senioren in der Kreisverwaltung. Was „angemessen“ ist, legen die Richtlinien auf der Grundlage des „schlüssigen Konzeptes“ der Firma Analyse und Konzept aus Hamburg fest - mit dem Ergebnis, wie es hieße, dass bei einem Großteil der Leistungsbezieher die „angemessenen“ Mietkosten unter dem bisherigen Satz liegen. Sie hatten daher im Februar ein Schreiben mit dem Hinweis, dass ihre Mietkosten nicht mehr in der bisherigen Höhe förderfähig seien. Daraus habe man Konsequenzen gezogen, so Seibert, und eine Handlungsanweisung erarbeitet, die nun „soziale Zumutbarkeitsregeln“ auflistet.
Als unzumutbar wird demzufolge ein Umzug dann eingestuft, wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt oder soziale Bindungen zerstört würden. Eine 80-Jährige müsse nach 30 Jahren in der selben Wohnung, zumal wenn sie in Nachbarschaftshilfe eingebettet sei, ebenso wenig auf Wohnungssuche gehen wie eine Alleinerziehende, für deren Kinder ein Wohnungswechsel eine Herauslösung aus Schule oder Kindergarten bedeute. Selbst wenn Aussicht bestehe, dass der Unterstützungsbedarf wegfällt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu erwarten sei, werde die Regelung nicht angewendet. Seibert machte aber auch klar, dass die Richtlinien für zwei Jahre Gültigkeit haben und angewendet werden. Dabei sei ein mehrstufiges Verfahren vorgesehen, das es Betroffenen ermögliche, im Einzelfall prüfen zu lassen, ob eine Ausnahmeregelung greift. Sowohl im Jobcenter als auch in ihrem Amt könnten Betroffene sich beraten lassen.
Der Kreisausländerbeirat kritisierte das Vorgehen der Behörden auf verschiedenen Ebenen. Françoise Hönle meinte, die Regelung treffe vor allem Migranten, die ohnehin bei der Wohnungssuche Diskriminierungen hinzunehmen hätten. Es treibe die „Ghettoisierung“ voran. Hohen Beratungsbedarf bei der Umsetzung der Regelung sieht Angelika Linke vom Arbeitskreis Soziale Sicherung der Wohlfahrtsverbände und Beratungsstellen. Die jetzt fixierten „angemessenen“ Kosten orientierten sich nicht an der tatsächlichen Wohnungsmarktsituation; entsprechender Wohnraum stehe nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Belege für diese Kritikpunkte trug Rechtsanwalt Kaulbach vom Mieterverein vor. Kaulbach wies zudem auf den dramatischen Rückgang von Sozialwohnraum in Gießen hin und die Mieterhöhungen in Folge umfangreicher energetischer Sanierungen. Ähnlich äußerte sich Flüchtlingsseelsorger Hermann Wilhelm.
Gießener Allgemeine, 13.06.2013