Hilfe benötigen vor allem Kinder
Referenten berichteten im Kreisausländerbeirat über die Lage im Bürger-kriegsland Syrien
Kinder, die in Bombentrümmern spielen, verlassene Straßenzüge mit rahmenlosen Fensterhöhlen, Ruinen, Staub, Autowracks: Die Bilder, die Samer Aboutra aus Syrien am Dienstagabend zeigte, geben Einblick in ein vom Bürgerkrieg verwüstetes Land. Dass menschwürdiges Leben hier nicht möglich ist, machte er in der Sitzung des Kreisausländerbeirats unter der Leitung von Tim van Slobbe deutlich. Wie soll man Essen zubereiten, wenn man denn welches hat, aber nur zwei Stunden am Tag Strom, wie auf die andere Straßenseite gelangen um Brot zu besorgen, wenn der Weg von Heckenschützen belagert ist?
Rund ein Drittel der syrischen Bevölkerung sind schon heute Flüchtlinge. Mehr als 100 000 Menschen starben bisher in dem 2011 eskalierten Konflikt. Ganze Städte liegen in Schutt und Asche. Vom arabischen Frühling ist nicht mehr viel übrig. Längst habe das Aufbegehren der Menschen gegen das totalitäre Regime unter Beschar al-Assad sich von einem Bürgerkrieg zu einem Stellvertreterkrieg gewandelt, betonte der Sozialwissenschaftler Younes Qrirou.
Dabei hatte der Sohn des 1970 an die Macht gekommenen Hafiz al Assad, noch in seiner Antrittsrede im Jahr 2000 die Aussicht auf Liberalisierung und die Einführung von Grundrechten angekündigt. Doch schon nach kurzer Zeit sei das für die Mehrheit nicht nur unerreichbar, sondern Massenarbeitslosigkeit und explodierende Armut seien Realität geworden. Der Augenarzt mit europäischen Studium konnte damit mehr oder minder nahtlos an die 30 Regierungsjahre seines Vater anknüpfen, der Syrien in ein repressiven, sozialistischen Polizeistaat verwandelt hatte.
Weil ihre Kinder wegen regimekritischer Äußerungen verhaftet und gefoltert worden waren, gingen ihre Eltern im März 20111 auf die Straße. Die militärische Intervention des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung mündete in der Spaltung der Armee und damit im Bürgerkrieg. Längst verfolgten die regionalen Kräfte wie Saudi-Arabien, Iran und Türkei, aber auch Russland und die USA eigene Interessen.
„Wenn man helfen will, dann sollte man sich um die Kinder kümmern“, so dachte der seit 30 Jahren in Deutschland lebende Syrer Samar Aboutra. Mit einem Freund mobilisierte er innerhalb einer Woche zehn Ärzte, mit denen er vor allem in den Flüchtlingslagern an der türkischen Grenze humanitäre Hilfe leistet. Flüchtlingslager sei dabei kein beschönigender Begriff. Auf engstem Raum lebten hier Menschen, die alles verloren haben, viele Jahre lang eingesperrt in Zeltstädten ohne Aussicht auf baldige Rückkehr, in einer Region, deren Winter mit großer Kälte einhergehen. Der Weg aus den Lagern in eine mögliche Zukunft bleibt den meisten versperrt. Dennoch sind diese, im Vergleich zu jenen im Landesinneren, gut ausgestattet. Von den ca. sieben Millionen Flüchtlingen ist der überwiegende Teil Binnenflüchtlinge. Selten erreicht sie die humanitäre Hilfe.
14-Jährige an Scheichs verkauft
In den im Süden gelegenen Lagern würden neben der Mangelversorgung zudem vor allem Frauen zur Prostitution gezwungen, so Aboutara. 14-jährige Mädchen werden von ihren Familien an reiche Scheichs verkauft, die sich ihrer nach dreimonatige Ehe wieder entledigten. Je länger der Konflikt währt, desto unwahrscheinlicher wird eine friedliche Lösung, an dessen Ende eine Demokratisierung stehen könnte Aber auch die Aufspaltung des Landes in Regionen wäre wohl für die meisten Flüchtlinge keine Lösung, meinten beide Referenten. Einig waren sie sich auch darin: Syrien ist ein Land in einer politischen, aber vor allem humanitären Katastrophe – „und die ganze Welt sieht zu!“
Gießener Allgemeine 07.11.2013