Kreisausländerbeirat zur Berlin-Studie:
Fragwürdige Einteilung in ethnische Gruppen sorgt für Unmut bei Migranten
Der Vorstand des Kreisausländerbeirates hat sich mit der vor einigen Wochen erschienenen Studie „Ungenutzte Potentiale“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung befasst und ist zu folgender Einschätzung gekommen:
Positiv an der Studie ist, dass sie in vielerlei Hinsicht zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt wie die Ausländerbeiräte. So wird auch hier die Bildung als Schlüsselbereich für eine erfolgreiche Integration erkannt und einige weitere Bereiche genannt, die auch in unseren Sitzungen immer wieder problematisiert wurden: „Selbständigen wird die Niederlassung erschwert, Abschlüsse werden nicht anerkannt, es fehlt an Möglichkeiten zur Nachqualifizierung, (Migranten haben) Probleme, Jobs zu bekommen, die ihrer Befähigung entsprechen. Ein ausländischer Pass erschwert die Arbeitsvermittlung weiter.“ Zur Verbesserung der Integration wird eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen empfohlen, wie kostenloser Kindergartenbesuch, frühe gemeinsame Bildung, Ganztagsschulen mit Weiterbildung und Beratung für Eltern („Schulen sollten zu ganztägig offenen Integrationszentren ausgebaut werden“) und sogar die Einbürgerung nach dem ius soli (also nach dem Geburtsort). Es wäre wünschenswert, dass diese Vorschläge Gehör finden und durch die Politik umgesetzt werden.
Das Problem, das wir sehen, ist die Grundlage der Studie – das Ranking nach ethnischen Gruppen anstatt nach sozialer Herkunft. Das Werk unterteilt die Zugewanderten in 8 Gruppen, deren „Integrationswerte“ mit Hilfe verschiedener Indikatoren gemessen werden. Die Gruppen umfassen folgende Herkunftsgruppen: Aussiedler, Türkei, Südeuropa, weitere Länder der EU, ehemaliges Jugoslawien, ferner Osten, naher Osten, Afrika. Menschen, die unter sehr verschiedenen Voraussetzungen, z.B. was ihre Rechte in Deutschland und ihre Bildungsmöglichkeiten im Heimatland in dieses Land emigrierten und hier unter ungleichen Bedingungen leben, werden wie Schüler und Schülerinnen benotet und ihre Leistungen mit einander verglichen. Warum sind z.B. sämtliche „Ex-Jugoslawen“ in einer Kategorie? Warum die türkische Landbevölkerung aus Anatolien in einer Gruppe mit dem türkischen Akademiker oder der türkischen Geschäftsfrau? In welcher Schublade befindet sich das Einzelkind einer deutschen Flugbegleiterin und eines türkischen Ingenieurs, der selbst als Gastarbeiterkind aufwuchs? Leider führt diese Herangehensweise in unseren Augen bereits jetzt das selbst erklärte Ziel der Studie eine „vorurteilsfreie Diskussion“ zu führen ad absurdum. Denn wie man an der Wiedergabe der Studienergebnisse in vielen Medien erkennen kann (Spiegel titelte beispielsweise „Für immer fremd“), ist sie leider auch prädestiniert dafür, genau jene unsichtbaren Wände noch dicker zu machen, gegen die gerade die Migranten aus den schlecht abschneidenden Gruppen täglich prallen – und die übrigens auch für viele Migranten aus den Gruppen mit „guten Noten“ deutlich spürbar sind. Die Aussagekraft des verwendeten IMI (Index zur Messung der Integration) halten wir für fragwürdig - spätestens beim näheren Hinterfragen der einzelnen Indikatoren wird deutlich warum. Als Beispiele seien hier die Indikatoren Einbürgerung oder Eheschließung mit Einheimischen genannt: Wie kann z.B. die Einbürgerungsbereitschaft von Türken und Aussiedlern verglichen werden? Spätaussiedler sind bei der Einreise bereits Deutsche während sehr viele Menschen aus der Türkei auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt oder obwohl sie hier geboren sind kein Anrecht auf Einbürgerung haben. Und warum zählt die Einbürgerung überhaupt als Integrationsfaktor, wo die Studie doch selbst aufzeigt, dass die so gut integrierten EU-Bürger und Ehepartner in Mischehen mit Deutschen dazu tendieren ihre ausländische Staatsangehörigkeit beizubehalten? Und was den Faktor Eheschließung betrifft: Wie steht es z.B. um den Integrationsgrad der vielen mit Deutschen verheirateten Frauen aus Asien, Südamerika, Osteuropa?
Auch das Ranking unter den Bundesländern berücksichtigt nicht im ausreichenden Maße die verschiedenen regionalen und wirtschaftlichen Bedingungen. So belegt z.B. das Saarland den letzten Platz. Die Leistung der zahlreichen Einwanderer, die im Bergbau und in der Stahlindustrie lebensgefährliche Arbeit machten, um dann fast ausnahmslos arbeitslos zu werden, wird nicht als Integrationsfaktor berücksichtigt. Vor allem widerspricht die Studie hier oft dem subjektiven Lebensgefühl individueller Migrantinnen und Migranten – hier sei nur das gute Abschneiden einiger Bundesländer genannt, in denen die Bedingungen für Integration so schlecht sind, dass dort, zumindest im ländlichen Raum, fast keine Migranten leben...
Die vielleicht gut gemeinte Studie zeigt jedenfalls nicht die Vielfalt und die Potentiale der Migranten auf, sondern begrenzt die Menschen auf die ihnen zugeschriebene Identitäten!
Deshalb verstehen und teilen wir die Empörung vor allem der türkischen Menschen und der türkischen Medien. Die Studie ist leider auch dazu geeignet durch Politik und Medien zur Stimmungsmache missbraucht zu werden, sie zementiert durch eine zu oberflächliche und wenig ursachenbezogene Herangehensweise bestehende Vorurteile anstatt zu helfen sie abzubauen. Der Blick auf die genannten „ungenutzten Potentiale“ könnte, so unsere Befürchtung, weiterhin versperrt bleiben.
Der Vorstand des Ausländerbeirates des Landkreises Gießen im März 2009