"Kommunalwahl für alle nur Frage der Zeit"
Vorsitzender der hessischen Ausländerbeirate referierte bei einer Sitzung in Pohlheim - Kandidaten gesucht
KREIS GIESSSEN (pbr). Seit über 20 Jahren mischt er sich aktiv in die Kommunalpolitik ein, zeigt Missstände auf, engagiert sich für Betroffene: Der Ausländerbeirat des Landkreises Gießen. Damit sich der Beirat auch in Zukunft für die Probleme und Interessen der Migranten stark machen kann, müssen neue Kandidaten gefunden und Menschen für die Beiratswahlen am 7. November mobilisiert werden. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (Agah), Corrado di Benedetto, war vom Vorstand des Beirats eingeladen, um mit den rund 30 Mitgliedern und Gästen in der Volkshalle in Pohlheim darüber zu diskutieren.
In den vergangenen 50 Jahren habe es einen unumkehrbaren Zuwanderungszuwachs gegeben, so di Benedetto. Dadurch habe sich die Gesellschaft komplett verändert, mit 150 Nationen in Deutschland sei sie pluralistischer geworden. Die Arbeit der Ausländerbeiräte besteht nicht darin, "den armen Ausländern zu helfen, es geht darum, dass es allen gut geht", sagte der Vorsitzende.
"Reicht nicht aus"Es sei den Beiräten zu verdanken, Themen wie Migration und Integration auf eine parlamentarische Ebene gehoben zu haben. Dass es einen Integrationsminister für Hessen gebe, sei ein Erfolg der Beiräte. "Die Arbeit der Landesregierung ist anerkennenswert, reicht aber noch nicht aus", erklärte di Benedetto. 280 000 Migranten dürften bei Kommunalwahlen in Hessen nicht wählen, das entspricht der Einwohnerzahl von Wiesbaden. Bei Kommunalwahlen dürfen in Deutschland nur Bürger mit deutschem Pass, oder aus der Europäischen Union wählen. In einigen Städten, wie etwa in Offenbach, liegt der Migrationsanteil deutlich über 50 Prozent. Es empörte Corrado di Benedetto, "dass die Hälfte der Einwohner einer Stadt nicht wählen darf, das kann nicht sein". Für ihn ist es aber nur noch eine Frage der Zeit, bis alle das kommunale Wahlrecht erhalten.
Auch Gerhard Merz, der integrationspolitische Sprecher der SPD im Hessischen Landtag, nahm an der Sitzung teil. Er teilte die Ausführungen di Benedettos. Für die politische Arbeit sei die Agah ein unverzichtbarer Gesprächspartner. Es sei eine "Absurdität", dass nicht alle auf kommunaler Ebene ihre Stimme abgeben dürfen. Außerdem sei es nicht nachzuvollziehen, warum die Hälfte der Einbürgerungen in Deutschland unter Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft passiere und der anderen Hälfte dies verweigert wird. "In manchen Städten, zum Beispiel in Gießen, können parlamentarische Mehrheiten nicht mehr ohne die Stimmen der Migranten gebildet werden", mahnte Gerhard Merz.
Di Benedetto und Merz riefen dazu auf sich in Beiräten zu engagieren. Menschen ohne deutschen Pass bräuchten ein Mitbestimmungsrecht. Das sei durch die Beiräte möglich.
"Mehr Übergriffe"Wie Françoise Hönle, Vorsitzende des Kreisausländerbeirats, bekräftigte, können nur Menschen mit Migrationshintergrund einige Probleme erfassen und artikulieren. Sie begrüßte es sehr, dass an der Sitzung interessierte Migranten anwesend waren, die sich für die Wahl im November aufstellen lassen möchten. Hönle äußerte sich besorgt, dass es gerade in der letzten Zeit vermehrt zu fremdenfeindlichen Übergriffen gekommen sei. So in Wetzlar am vergangenen Wochenende. Dort wurde ein Brandanschlag auf das Haus von Joachim Schäfer, Pastoralreferent der katholischen Domgemeinde Wetzlar, verübt. "Wenn man nachts einen Brandanschlag verübt, geht man davon aus, dass Menschen sterben", so ein Mitglied des Ausländerbeirats.
Gießener Anzeiger, 11.03.2010