Doppelte Staatsbürgerschaft: Trotz deutschem Pass »Ausländer«?
Gießen (vo). Entscheide ich mich für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit gegen die meiner Eltern oder lieber umgekehrt? Mit dem Erreichen der Volljährigkeit stehen zunehmend Kinder ausländischer Eltern vor dieser Frage.
Um das Verfahren, damit einhergehende Schwierigkeiten und die politische Einschätzung der »Optionspflicht« ging es bei einer Veranstaltung des Kreisausländerbeirats zusammen mit der evangelischen Flüchtlingsseelsorge im Haus der Kreisverwaltung.
Während Tim van Slobbe, Vorsitzender des Kreisausländerbeirates Gießen, sich schon bei der Begrüßung als Freund der Mehrstaatlichkeit outete, bat Flüchtlingsseelsorger Hermann Wilhelmy zunächst um Antwort auf die Frage: Worum geht es?
Antwort gaben Lucie Cordes und Günter Mayer vom Regierungspräsidium Gießen. Seit dem Jahr 2000 haben Betroffene von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft zusätzlich zu der ihrer Eltern. Auch für zwischen 1990 und 1999 in Deutschland Geborene gilt ein Recht auf Einbürgerung. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit erhalten diese »Optionskinder« eine Aufforderung, sich entweder für eine ausländische oder die deutsche Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Im zweiten Fall muss bis zum 23. Lebensjahr ein Nachweis über den Verzicht auf die ausländische Staatsbürgerschaft vorgelegt werden. Andernfalls erlischt die deutsche Staatsbürgerschaft.
Ausnahmen gelten für alle Fälle, in denen der Nachweis nicht möglich oder nicht zumutbar ist, zum Beispiel für Asylanten, oder weil die Herkunftsländer niemanden aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen. Zwar müssen auch EU-Bürger einen Beibehaltungsantrag stellen, doch dann dürfen sie mehrere Staatsbürgerschaften haben. Für die Praxis bedeutet das unter dem Strich: Betroffen von der Optionspflicht sind in erster Linie Türkischstämmige. Über Einzelheiten informieren die Internetseite www.wider-den-optionszwang.de sowie ein von den Veranstaltern verteiltes Papier zum Thema »Optionspflicht – was heißt das?«
Zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes berichtete Rüdiger Veit, Bundestagsabgeordneter der SPD, die rot-grüne Regierung habe 1998 die doppelte Staatsbürgerschaft angestrebt, sei dafür aber auf die Mehrheit im Bundesrat angewiesen gewesen. Die habe man bei der Hessenwahl 1999 mit der damaligen Kampagne der CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft verloren, und so sei es zu dem jetzigen unbefriedigenden Kompromiss gekommen.
Mit dem Ende der Wehrpflicht in Deutschland und einem EU-Abkommen gegen einen doppelten Wehrdienst gebe es keine Argumente mehr, eine Mehrstaatlichkeit nicht zu akzeptieren. Darüber sei kürzlich auch im Bundestag diskutiert worden, doch habe es das Thema trotz »50 Jahre Anwerbeabkommen« nicht in die Fernsehnachrichten geschafft.
In Vertretung des verhinderten CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Helge Braun forderte Dr. Gerhard Noeske, für die CDU im Kreistag zuständig für Sozialpolitik, sich für den deutschen Pass und damit gegen eine andere Identität zu entscheiden, um Loyalitätskonflikte zu vermeiden. Für das Thema Staatsbürgerschaft interessiere sich allerdings kaum jemand, da zum Beispiel Aufenthalt, Ausbildung oder Berufstätigkeit davon nicht abhängig seien.
Widerspruch aus dem Publikum gab es vor allem zum letzten Punkt: Bei der Arbeitsvermittlung gelte weiter die Vorrangprüfung, nach der freie Stellen in erster Linie mit Deutschen zu besetzen seien. Marketa Roska von der Geschäftsstelle des Ausländerbeirates hielt Noeske entgegen, die Entscheidung über ihre Identität liege ohnehin nicht bei ihr selbst, sondern bei den Deutschen um sie herum: »Ausländer« werde man auch trotz eines deutschen Passes genannt.
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