„Über 30 Nationen an unserer Schule“
Kreisausländerbeirat informierte sich über Gesamtschulen - „Zehn Prozent der Studierenden strukturelle Analphabeten“
Kreis Gießen (elf). Ein Raunen ging im Hörsaal der Technischen Hochschule in Gießen durch die Reihen der Anwesenden während der Sitzung des Kreisausländerbeirates, als Norbert Panz, stellvertretender Schulleiter der Clemens-Brentano-Europaschule in Lollar sagte: „Wir haben Schüler aus über 30 Nationen an unserer Schule.“ Unter anderem thematisierte er im weiteren Verlauf auch die knappen finanziellen Mittel, mit denen die Schulen rangieren müssten.
Thema des Abends war: „Gesamtschulen - gute Chancen für alle Kinder?“ Eingeladen hatte der Ausländerbeirat für die Gesamtschulen des Landkreises Gießen, um die Öffentlichkeit über deren unterschiedliche Arbeitsweisen zu informieren. Gäste waren unter anderen Kreisschuldezernentin Dr. Christiane Schmahl und Axel Schumann, Vizepräsident der Technischen Hochschule (TH), der während der Vorstellungsrunde sagte, dass es an der TH viele ausländische Studierende gebe. Ebenfalls anwesend waren die Vertreter dreier integrierter und vier kooperativer Gesamtschulen des Landkreises. Grundsätzlich werden in integrierten Gesamtschulen Schüler in einzelnen Fächern nach Leistung und entsprechender Anforderung in Kurse aufgeteilt. Die Schulen könnten, so erklärte Heribert Ohlig, Schulleiter der Gesamtschule Gießen-Ost, nicht beliebig entscheiden, wann sie mit dem sogenannten „Differenzieren“, also dem Trennen der Schülergruppen nach Leistung und Anforderungen, beginnen. Es müsse einen spätesten Zeitpunkt geben, an dem dies geschehe.
In kooperativen Gesamtschulen gibt es parallel verschiedene Klassen des Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialzweiges. Nur einzelne Fächer werden gemeinsam unterrichtet.
Bezüglich der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des Gesamtschulkonzeptes hatte eine Bürgerin große Bedenken. Sie sei gerade aus Portugal nach Deutschland gekommen, erzählte sie von der eigenen Geschichte, als sie ihr Kind in die Gesamtschule Pohlheim gegeben habe. Von den verschiedenen Gesamtschulzweigen habe sie keine Ahnung gehabt, sei verwirrt gewesen. Es sei ihr nicht gelungen, Orientierung zu finden. Daher habe sie letztendlich ihr Kind wieder von der integrierten Gesamtschule genommen und es in ein Gymnasium gesteckt, weil sie vermutete, dass es dort bessere Chancen habe. Während bezüglich der sprachlichen Schwierigkeiten im Raum der Anwesenden noch genickt wrde, schüttelten viele abwehrend die Köpfe, als es um die angedeutete geringere Qualität der Ausbildung der Kinder in Gesamtschulen ging.
Ohlig erklärte allgemeiner, dass die „Dreigliedrigkeit“ des deutschen Schulsystems, die Aufteilung in Haupt-, Realschule und Gymnasium eine deutsche Eigenart sei, die es in anderen Nationen nicht so gebe. Die Forderung nach einheitlicher Bildung sei in der deutschen Geschichte teilweise als „Gleichmacherei“ kritisiert worden.
Der Schulleiter sagte ebenfalls, dass das Schild „Gymnasium“ an einer Schule nicht bedeute, dass es sich um eine bessere Schule handele, ebenso wenig, wie es dies beim Schild „Gesamtschule“ bedeute. Es komme sehr darauf an, wie das Team der Lehrer arbeite.
Andreas Jorde, stellvertretender Schulleiter der Theo-Koch-Schule in Grünberg, thematisierte die Frage, ob Schüler unter gleichstarken Mitschülern besser lernten. In einigen Fällen sei es so, etwa beim Frontalunterricht.
Markéta Roska, [Geschäftsstelle des Ausländerbeirates, Anm. M.R.] berichtete von eigenen Erfahrungen aus ihrer Schulzeit in Dänemark. Dort sei die Schule nicht so stressbelastet wie in Deutschland.
Axel Schumann, Vizepräsident der Hochschule, erzählte, dass er als Arbeiterkind aufgewachsen sei und vielfach wichtige Entscheidungen für seine Schullaufbahn selbst habe treffen müssen. Es sei auch ein psychologisches Thema. Klippen zwischen den Klassen der Gesellschaftsschichten müssten überwunden werden, sagte der Wissenschaftler. Man müsse den Kindern selbst an die Hand gehen.
Schumann merkte an, dass er schätze, dass etwa zehn Prozent der Studierenden strukturelle Analphabeten seien. (Anmerkung der Redaktion: Strukturelle Analphabeten erkennen Buchstaben, haben jedoch Schwierigkeiten deren Sinn zu verstehen.)
Einig war sich die Versammlung darüber, dass die Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit dem Schulsystem für den Laien gewöhnungsbedürftig seien.
Gießener Anzeiger, 26.04.2012