Welche Differenzierung erfolgt zwischen Bildungsgängen?
Rektoren aus dem Kreis stellten in Sitzung des Kreisausländerbeirates Schulprofile vor - Gremium nicht beschlussfähig
Gießen (hin). „Es gibt also integrierte Gesamtschulen, die integrierter sind als andere?“ Die Frage von Tim van Slobbe, Vorsitzender des Kreisausländerbeirates, bei der Sitzung des Gremiums am Dienstag in einem Hörsaal der Technischen Hochschule in der Wiesenstraße schien nicht ganz unberechtigt. Angehörige der Schulleitungen von Gesamtschulen im Land-kreis waren gekommen, um Schwerpunkte ihres Schulprofils vorzustellen und insbesondere zu erklären, welche Anstrengungen unternommen werden, um Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und deren Eltern das System der Schule verständlich zu machen.
Vizepräsident Professor Dr. Axel Schumann nahm als Vertreter der TH teil. Außerdem waren Schuldezernentin Dr. Christiane Schmahl, Migrationsbeauftragter Dirk Haas und mehrere Kreistagsabgeordnete erschienen. Mangels Beschlussfähigkeit wurden anstehende Ent-scheidungen des Ausländerbeirates auf einen späteren Zeitpunkt vertagt.
Die Diskussion rankte weitgehend um die Frage, wie man sich den Unterschied zwischen einer kooperativen und einer integrierten Gesamtschule vorstellen muss und wann und wie die Differenzierung zwischen den einzelnen Bildungsgängen erfolgt. Auch die Zahl der aus-ländischen Schüler spielte eine Rolle. An der Gesamtschule Lumdatal beispielsweise gibt es nur sieben nicht-deutsche Schüler. Sie alle befänden sich in weiterführenden Bildungs-gängen und seien voll integriert, besichtete Schulleiter Klaus-Dieter Gimbel. In Lollar hin-gegen werden Schülerinnen und Schüler aus 30 Nationen unterrichtet, zwei Drittel davon türkisch, so Norbert Panz, stellvertretender Schulleiter an der Clemens-Brentano-Europa-schule. Er beschrieb die Schwierigkeit, bei den von der Landesregierung knapp zu-gewiesenen Mitteln dem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Er stellte klar, dass keines-falls „nur nach unten aussortiert“ werde.
Historie gemeinsamen Lernens
Ingrid Hubing (Friedrich-Ebert-Schule, Gießen) sagte, sie sei gekommen, um ihre Schule vorzustellen, nicht um politische Diskussionen zu führen. Damit reagierte sie auf allgemeine Forderungen. Serdar Isik (Ausländerbeirat) beklagte die Tatsache, dass Begabungs-potenziale nicht ausgeschöpft würden. Es sei schwer bis unmöglich aus vorgegebenen Bahnen auszubrechen. Heribert Ohlig (Gesamtschule Gießen-Ost) fürchtete, dass es künftig immer weniger Ektern geben werde. Das beeinflusse das Verhalten bei Wahlen. Für Wähler ohne Kinder sei die Frage der Schulform ohne Relevanz, so Ohlig. Der Schulleiter erklärte die Historie des gemeinsamen Lernens und die Widerstände der Bildungselite gegen die Abschaffung des dreigliedrigen Systems. Er verband dies mit einem Plädoyer für die inte-grierte Gesamtschule, sagte aber auch, es gebe mehr Unterschiede zwischen gleichen Schulformen als zwischen der Gesamtschule und anderen Formen. Entscheidend seien letztlich die Lehrkräfte und das Konzept.
Anke Röse (Friedrich-Magnus-Gesamtschule Laubach) fand es schwierig zu bestimmen, wer mit der Formulierung „mit Migrationshintergrund“ eigentlich gemeint sei. Am Treffendsten sei vermutlich, alle darunter zufassen die zu Hause als erste Sprache nicht Deutsch sprechen. Andreas Jorde (Theo-Koch-Schule Grünberg) berichtete von einer Deutsch-Intensivklasse, die Schüler ohne Deutschkenntnisse fächer- und jahrgangsübergreifend integriert.
Haas äußerte sich kritisch zum Thema „Durchlässigkeit“. „Warum erst Hürden aufbauen, um sie später zu durchbrechen?“, fragte Haas. Francoise Hönle (Ausländerbeirat) sprach aus ihrer Erfahrung bei der Hausaufgabenhilfe. Axel Schumann, dessen berufliche Laufbahn mit einem Hauptschulabschluss begann, kommentierte die verwirrenden Differenzierungsmodelle mit seiner Herkunft aus einer Arbeiterfamilie: „Meine Eltern hätten hier wahrscheinlich nichts verstanden.“ Der Professor sprach von zehn bis 15 Prozent „strukturelleren Analphabeten“ unter den Studierenden. Markéta Roska von der Kreisverwaltung, die einen Großteil ihrer Schulzeit in Dänemark verbracht hat, bezeichnete das deutsche Schulsystem als stressbeladen. In Dänemark müsse man nicht schon in der vierten Klasse Weichen für die spätere Berufslaufbahn stellen.
Gießener Allgemeine Zeitung, 26.04.2012