„Bloß nicht auffallen“
Kreisausländerbeirat befasst sich mit der Studie zu rechten Strukturen in der Region
Gießen/Allendorf/Lumda (vh). Der Ausländerbeirat des Landkreises Gießen tagte am Dienstag in der Gesamtschule Lumdatal in Allendorf und zwar mit der Absicht, aus der im Januar veröffentlichten Studie „Rechte Einstellungen und rechte Strukturen im Landkreis Gießen“ Handlungsfelder zu erschließen. An der Veranstaltung in der Schulaula nahmen außer den Mitgliedern des Beirats eine stattliche Anzahl von Personen teil, die beruflich oder ehrenamtlich für Organisationen und Institutionen tätig sind, die menschenfeindliche Machenschaften öffentlich anprangern.
Sinnvolle Strategien insbesondere für Schulen und Kommunen sollte der Abend bringen. Der Tagungsort Allendorf war nicht zufällig gewählt, gab es dort doch eine Häufung rechtsradikaler Vorkommnisse im vorigen Jahr. Doch das ist kein Lumdatal-Spezifikum: Beirats-Vorsitzender Tim van Slobbe betonte, es sei wirklich erschreckend, wie grenzüberschreitend sich der Einfluss der Szene über die Kommunen hinweg ausbreite. Insbesondere natürlich auch über Internetseiten und Facebookseiten. Das Ganze teils sehr gut verpackt.
Schulleiter Klaus-Dieter Gimbel sprach aus dem Erfahrungshorizont seiner Schule. Niemand laufe heute noch mit Springerstiefeln über den Schulhof. Das rechte Erscheinungsbild verberge sich hinter einem sehr angepassten Verhalten, das zu erkennen deshalb diffizil sei. Rechte Gruppen, die von außerhalb kämen, wie erst kürzlich zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens (13. Februar), träten absichtsvoll in wechselnder Besetzung auf – bloß nicht auffallen.
Als Diskussionsschwerpunkt für mutmaßlich rechte Absichten, die aber nicht eindeutig nachzuweisen sind, erwiesen sich Rockbands, über deren Rechts-Tendenz spekuliert werden darf, falls sie damit nicht schon selber werben. Das Beispiel „Frei.Wild“ fiel. In die Liedtexte der verdächtigen Bands könne ein Subtext hineininterpretiert werden, dessen Inhalt und Botschaft oft nur die Insider kennten. Dann gibt es Festivals, denen die Rechtsfärbung anhaftet wie das „Ehrlich & Laut Festival“ in Alsfeld. Es berichtete nun ein Sitzungsgast von dort, man habe eine Gegenveranstaltung organisiert, wobei die Festivalbesucher in Vorträgen informiert worden seien.
Rechtstendenz kein Jugendproblem
Yvonne Weyrauch, Mitautorin der Studie, erläuterte dem Ausländerbeirat die von ihr und Wiebke Dierkes aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse zu empfehlenden Strategien. Zunächst das allgemeine Verständnis von Rechtsextremismus, dessen Auswirkung, ein ungesetzlicher Vorgang, stets Beachtung finde, dessen Ursprung, die unkritische Einstellung gegenüber jeglicher Form von Menschenverachtung, präventiv-pädagogisch angegangen werden solle.
Weil die Studie klar gezeigt hätte, dass eine Rechtstendenz kein Jugendproblem sei, sondern mit dem Lebensalter sogar zunehme, schlug Weyrauch vor, auch die Lehrer, Schulsozialarbeiter und Eltern in das Präventivprogramm einzubinden, wie man rechte Phänomene und ihre versteckten Formen erkennen könne. Was im Landkreis Gießen bisher fehle, sei eine Opfer- und Betroffenenberatungsstelle, des Weiteren ausreichend Personal im Bereich der Jugendbildungsreferenten. Interventionsarbeit und Verstetigung der Dokumentation über Rechtsradikale benötige mindestens zwei Vollzeitstellen. Deutlich machte die Sitzung des Ausländerbeirats, dass Vorurteile nicht nur Ausländer betreffen, sondern ebenso Obdachlose und Langzeitarbeitslose und dass rechtes Denken sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht und keinesfalls nur Männer betrifft.
Hingehen, wo es wehtut, schlug Vorsitzender van Slobbe vor. Gerade auf dem Dorf, wo sich jeder kennt, dürften Mitbürger und Kommunalpolitiker das rechte Tun nicht stillschweigend dulden. Ob man in die betreffenden Familien hineingehen sollte, fragte er sich. Schulleiter Gimbel informierte über eine von der Schülervertretung initiierte Aktion, wobei sich alle Schüler und Lehrer mit Unterschrift zur Abwehr von Rechtstendenzen an ihrer Schule verpflichtet hätten. Am 10. März erhalte man dafür eine Urkunde als „Schule mit Courage“. Erschreckend die Erkenntnis aus der Runde, dass einem größeren Anteil von Jugendlichen offensichtlich ausreichende Geschichtskenntnisse über das Dritte Reich und seine Taten fehlen. Deswegen werde Gruppen geglaubt, die verbreiteten, man werde beschuldigt, dieses oder jenes getan zu haben und müsse sich dessen nun erwehren.
Bedrückend war auch jene Einsicht, dass Erwachsene Demokratie kaum mehr vorlebten und die Jugendlichen in den Schulen zu wenig Toleranz- und Demokratieerziehung erführen, und zwar über die praktische Art und Weise des Zusammenseins. Nicht nach Lehrplan jedenfalls.
Gießener Allgemeine Zeitung, 20.02.14