Wenn Eltern die Ehe bestimmen
Seyran Ates verkürzt Termin beim Bundespräsidenten, um rechtzeitig in Gießen zu sein
Gießen (hin). Kompliment für den Kreisausländerbeirat: Um ihren Vortragstermin im Gießener Landratsamt wahrnehmen zu können, hatte Seyran Ates – Autorin, Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin aus Berlin – ein Expertengespräch bei Bundespräsident Joachim Gauck vorzeitig verlassen und war zum Bahnhof geeilt. Im Konferenzraum der Kreisverwaltung am Riversplatz berichtete sie am Freitag über Zwangsverheiratung und über den Zwang zur Heirat in unterschiedlichen Kulturkreisen. Mitveranstalterin des Ausländerbeirates war das Kreis-Frauenbüro. Françoise Hönle begrüßte die Anwesenden im Namen des Beirates. Frauenbeauftragte Angelika Kämmler erinnerte an die Konflikte von Eltern im Spannungsfeld zweier Kulturen.
Wie der Zwangsehe entkommen?
Liebesheiraten seien auch in Europa noch gar nicht so lange üblich, rief Ates in Erinnerung, und Zwangsheiraten („Acker zu Acker, Geld zu Geld“) ein Thema bis in die jüngere Zeit, wie Beispiele aus der Literatur belegen. Die Rechtsanwältin aus Berlin deutete an, wie gefährlich es sein kann, sich für Frauenrechte einzusetzen, hat sie doch selbst, wie sie fast nur zwischen den Zeilen erklärte, Morddrohungen und ein Attentat erlebt und überlebt.
Aus Sicherheitsgründen musste sie ihre Kanzlei in Berlin eine Zeit lang schließen, arbeitet inzwischen aber wieder in ihrem Beruf und berät als Anwältin unter anderem scheidungswillige Frauen. Sie hob hervor, wie wichtig es sei, kulturelle Hintergründe zu kennen. Türkische oder kurdische Frauen lebten in engem Familienbund. Sie würden ein „Wir-Bewusstsein“ kennen, nicht aber eine Individualität, wie sie in westlichen Ländern ganz selbstverständlich sei. Der Zwangsehe zu entfliehen, stellt Frauen somit selbst in Alltagsfragen vor ganz neue Herausforderungen. Nie zuvor mussten sie vielleicht einkaufen gehen, nie zuvor Entscheidungen ohne den Rückhalt der Familie treffen. „Wie kann man sein Leben alleine meistern, wenn man es nicht gelernt hat?“, fragte die Referentin. Der Zwangsehe zu entfliehen, stellt aber nicht nur Frauen vor ein Problem, würden doch auch junge Männer in die Ehe gedrängt.
Für sexuelle Revolution im Islam
Seyran Ates bezeichnete Zwangsverheiratung als eine Form von häuslicher Gewalt. Andererseits seien Eltern, die ihre Töchter in eine Ehe drängten, nicht automatisch Unmenschen, sondern vielleicht nur bestrebt, ihrem Kind die soziale Ausgrenzung zu ersparen. Ates unterschied zwischen Zwangsverheiratung und dem Zwang zur Heirat, denn jungen muslimischen Paaren sei es nicht gestattet, außerhalb der Ehe miteinander zu leben und sich auf diese Weise kennenzulernen.
Die Frauenrechtlerin fordert eine sexuelle Revolution im Islam. Um die Eltern für neue Lebensformen ihrer Töchter zu gewinnen, sei es wichtig, sie in die Diskussion einzubeziehen, meint Ates. Nur so könne man erreichen, dass Mütter sich nicht mehr gegen ihre Töchter stellten oder gar einen Ehrenmord unterstützen.
Dem Vortrag der Berliner Anwältin folgte eine angeregte Diskussion, die beim Thema Islam, aufgebracht durch einige Frauen im Publikum, eine gewisse Schärfe erhielt. Insgesamt umfassten die Wortmeldungen ein breites Spektrum. Sie rangierten von Fragen zur Lebenssituation in der Türkei bis zur Überlegung, inwieweit sich die Moscheevereine in Deutschland mit dem Thema Zwangsverheiratung befassen.
Quelle: Giessener Allgemeine Zeitung vom Dienstag, den 18. März 2014, Seite 37