„Zwischen den Großmächten zerrieben“
Lebhafte Gesprächsrunde nach Burbelko-Bericht am Dienstag im Kreis-Ausländerbeirat
Gießen (hin). „Alle zerren an der Ukraine. Aber was will das ukrainische Volk? Und was ist eigentlich das ukrainische Volk?“ Für seine Sitzung am Dienstag im Gießener ZIBB hatte der Kreis-Ausländerbeirat die Situation in der Ukraine in den Mittelpunkt gestellt und zu einer Bestandsaufnahme eingeladen. Natalie Burbelko, Lehrerin am Deutsch-Russischen Zentrum in Gießen, referierte. Andere Tagesordnungspunkte wurden verschoben, weil das Gremium nicht beschlussfähig war.
Beiratsvorsitzender Tim van Slobbe aus Pohlheim verglich die Situation im Saal mit der Krisenlage in der Ukraine. So befänden sich etliche Menschen im Raum, die er nicht kenne. Er wisse nicht, wer Russe und wer Ukrainer sei, und er könne nicht einschätzen, wie sie im nächsten Moment reagieren. Er spüre aber eine spannungsgeladene Atmosphäre, selbst hier, weit weg vom eigentlichen Krisenherd. Übertragen auf die Situation in der Ukraine könne er sich vorstellen, wie schwierig sich der Alltag für die Menschen in der Ukraine gegenwärtig darstelle.
Burbelko begann ihren Vortrag mit einem bewusst knapp gehaltenen Bericht über die Geschichte des Landes und die wechselnden Landesherren. Mal gehörte man zu Polen und Litauen, mal zu Russland, zu Österreich, zu Tschechien oder Rumänien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine Teil der Sowjetunion. Ein eigener Nationalstaat ist sie seit 1991. Aktuell könne niemand sagen, was nach den Parlamentswahlen am 25. Mai geschehen werde. Das ukrainische Wort „Majdan“, seit September 2013 auch hierzulande ein Begriff, heißt übersetzt eigentlich nur “Platz“. Es stehe aber für die damit verbundenen Proteste und für die Menschen, die sich dort zu anfangs friedlichen Protesten versammelt hätten.
Nach Aussage von Burbelko sei es schwer, sich ein objektives Bild von der Lage zu machen. Ihrer Einschätzung nach herrsche auf beiden Seiten Angst und Unsicherheit. Auf der Straße Russisch oder Ukrainisch zu sprechen, könne allein schon zu einer brenzligen Situation führen, sagte Burbelko. Die Diskussion bewegte sich um internationale Verflechtungen und wirtschaftliche als auch politische Interessen der Großmächte, kehrte aber immer wieder zu persönlicher Betroffenheit zurück.
Viele der im ZIBB Anwesenden haben Kontakt zu Freunden und Verwandten in der Ukraine. Sie verfolgen die Entwicklung mit großer Sorge. Eine deutsche Unternehmerin, die beruflich in der Ukraine zu tun hat, beobachtet, sie sie sagte, seit mehreren Jahren, wie das Land „zwischen den Großmächten zerrieben“ werde. Sie rief dazu auf, die Menschen in der Ostukraine mit ihren Bedürfnissen ernsthaft wahrzunehmen. Viele der Beschäftigten fürchteten um ihre Arbeitsplätze, so die Unternehmerin.
Markéta Roska, Geschäftsführerin des Ausländerbeirates, wünschte den Menschen in der Ukraine einen demokratischen Weg. Das aber erfordere Zeit, und die werde den Menschen dort nicht zugestanden. Ein Zuhörer beschrieb die Ukraine als einen „Sumpf von Korruption“, und das werde sich nach den Wahlen, so sie denn überhaupt stattfänden, nicht schlagartig ändern. Seine Wortmeldung führte zu der Überlegung, inwieweit ausländische Kreditgeber sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen dürften. Ein Zuhörer fürchtete, dass die Krise in der Ukraine auch unter Migranten zu Feindschaften führen könnte.
Beiratsmitglied Fançoise Hönle aus Lich zeigte sich erleichtert, dass ein so heikles Thema wie die Krisenlage in der Ukraine an diesem Abend auf meist sachlicher Ebene diskutiert worden sei. Zugleich riet sie zur Selbstkritik. Auch in der EU lasse vieles zu wünschen übrig.
Gießener Allgemeine, 2. Mai 2014